Wir werden alle immer älter und dürfen oder müssen auch länger arbeiten. Dabei bietet das flexiblere und mobilere Neue Arbeiten viele Vorteile – nicht zuletzt gesundheitliche. Allerdings nur, wenn wir die Nachteile in den Griff bekommen. Ein Plädoyer für eine überfällige Debatte.
Von Markus Albers
In der gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Debatte rund um das so genannte Neue Arbeiten – also einer Arbeitsweise, die dank zunehmendem Einsatz von Technologie räumlich mobiler und zeitlich flexibler wird – vergessen wir oft einen wichtigen Aspekt. Wir sprechen über die Wünsche der jungen Generationen Y und Z, die sich neue Freiheitsgrade wünscht – 4-Tage-Woche, Home Office, Remote-Working, Sabbaticals. Wir sprechen über die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Menschen mit jungen Kindern, die auch auf dem Spielplatz noch fürs Büro erreichbar sind. Wir loben die positiven Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Geschlechtergleichheit, weil sich so mehr Männer um die Kinder kümmern, mehr Frauen ganztags arbeiten.
Das ist alles richtig und gut. Aber wir übersehen dabei die Auswirkungen des Neuen Arbeitens auf jene Generation, die unsere Gesellschaft schon heute prägt, wie keine andere, und die in Zukunft noch mehr Gewicht bekommen wird: die älteren Berufstätigen.
Die demografische Entwicklung, medizinischer Fortschritt und Bedürfnisse des Arbeitsmarktes addieren zwei Megatrends zu einem: Wir werden immer älter und wir müssen (oder – je nach persönlicher Perspektive: dürfen) immer länger arbeiten. Das ist zunächst einmal eine positive Entwicklung. Viele Menschen ziehen Energie und Lebenssinn aus ihrer Arbeit, und auch über das traditionelle Rentenalter hinaus zumindest noch ein wenig zu arbeiten, kann die letzte Lebensphase positiv beeinflussen.
Laut einer aktuellen Studie hatten Menschen, die mit 66 statt mit 65 Jahren in Rente gingen ein um elf Prozent geringeres Sterberisiko. Allerdings galt das nur für Rentner, die sich selbst als gesund bezeichneten. „Es betrifft vielleicht nicht jeden, aber wir denken, dass die Menschen von Arbeit finanziell und sozial profitieren und dass das ihr Leben verlängert“, schreibt Studienleiter Chenkai Wu im „Journal of Epidemiology and Community Health“. Wu hat sich für die Untersuchung Daten von 12.000 Amerikanern aus einer großen Langzeitstudie angeschaut. „Unsere Erkenntnisse zeigen, dass Menschen, die aktiv und beschäftigt bleiben, einen Vorteil haben.“
Das Neue Arbeiten kann dabei helfen. Es hat sich in den letzten Jahren vom Orchideenthema zu einem Massenphänomen gewandelt. Im Jahr 2000 boten nur 4 Prozent aller deutschen Unternehmen mobiles und flexibles Arbeiten an, 2006 waren es schon 18,5 Prozent. Mittlerweile ist die Zahl der mobilen Mitarbeiter hierzulande größer als die der stationären: 54 Prozent der Berufstätigen in Deutschland arbeiten laut einer aktuellen Studie „teilweise oder ausschließlich“ mobil. Sie erledigen ihre Arbeit von wechselnden Orten aus oder auf Reisen und nutzen dabei Laptops (97 Prozent), Smartphones (93 Prozent) oder Tablets (62 Prozent). Das bedeutet im Umkehrschluss: Nur noch 46 Prozent der Beschäftigten sitzen ausschließlich an einem stationären Arbeitsplatz. Heute wünschen sich 62 Prozent der Deutschen, regelmäßig von zu Hause aus arbeiten zu dürfen. Und für 90 Prozent der Beschäftigten ist bei der Arbeitgeberwahl Flexibilität ebenso wichtig wie das Gehalt.
Meine These: Gerade für ältere Arbeitnehmer und für Ruheständler, die noch eine Weile beruflich aktiv bleiben wollen, ist das eine gute Nachricht. Denn wer mit Mitte 60 – oder Mitte 70 und darüber hinaus – noch arbeiten soll oder will, der möchte ganz sicher nicht im Korsett einer aufgezwungenen Routine stecken, mit Anwesenheitspflicht und Schreibtisch-Tristesse und Büropolitik. Der will auch mal vom Segelboot oder dem Garten aus arbeiten, aus dem Café oder von der Terrasse einer Finca auf Mallorca. All das wird durch Neues Arbeiten nicht nur möglich, sondern üblich und sogar erstrebenswert – natürlich nicht für alle Arbeitnehmer, sondern vor allem für Wissensarbeiter, die hautsächlich mit dem Kopf und dem Computer arbeiten – aber das sind in Deutschland bereits die Hälfte aller Jobs, Tendenz steigend.
In den letzten Monaten haben sich in Deutschland viele große Unternehmen wie Daimler, Bosch, Henkel, Siemens, Microsoft oder die Lufthansa auf Vorstandsebene dieser mobileren und flexibleren Arbeitsweise verschrieben. Es weht ein frischer Wind durch die deutsche Arbeitswelt, und gerade für ältere Arbeitnehmer ist das erstmal eine gute Nachricht.
Aber es gibt auch eine Schattenseite dieser Entwicklung, und über die muss ebenfalls dringend gesprochen werden: Das eigentliche Versprechen der Neuen Arbeit ist es ja, mit neuen, intelligenteren Arbeitsweisen effizienter zu sein. Dann zu arbeiten, wenn man am produktivsten ist. Zwischendurch private Dinge erledigen zu können und so die Arbeit von acht oder neun Stunden in fünf zu erledigen. Das geht, davon bin ich fest überzeugt, das habe ich oft genug selbst ausprobiert. Die spannende Frage ist ja nur, was wir mit den gewonnenen drei bis vier Stunden machen sollen? Nach meiner Theorie: Alles, bloß nicht arbeiten!
Die Wirklichkeit sieht anders aus: 84 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer sind erreichbar, nachdem sie das Büro verlassen haben. 46 Prozent geben an, keine 5-Tage-Woche zu haben, sondern auch abends und an den Wochenenden zu arbeiten. Zudem ist die Mehrheit der Beschäftigten auch während des Sommerurlaubs für Kollegen, Vorgesetzte und Kunden erreichbar. 67 Prozent antworten auf dienstliche Anrufe, E-Mails oder Kurznachrichten. 20 Prozent arbeiten mit ihrem Smartphone, Tablet oder Computer, kurz bevor sie schlafen gehen. Die Krankenkassen schlagen schon Alarm. Über 50 Prozent aller von ihnen Befragten haben regelmäßig Schlafprobleme. Die Zahl der Fälle von psychischen Erkrankungen, die auf Stress zurückzuführen sind, stieg seit 1994 um 120 Prozent.
Es mehren sich also die Zeichen, dass das emanzipatorische Potential des Digitalen im Alltag an seine Grenzen stößt. Die Hoffnung vieler Menschen, dass Technologie uns ein besseres Leben ermöglichen kann, weicht zusehends der Ernüchterung. Insofern ist die Digitale Erschöpfung, von der ich in meinem neuen Buch schreibe, eine doppelte. Gemeint ist sowohl die konkrete, individuelle Erschöpfung, die das Always-On des Digitalen in uns Menschen auslöst. Aber ebenso die abstrakte, begriffliche eines sich erschöpfendenden Heilsversprechens.
Ich habe mir für mein Buch von Suchtforschern erklären lassen, warum wir alle von den ständig neuen Nachrichten, Notifications, Updates abhängig sind – dahinter steckt ein Phänomen, das Psychologen „intermittierende Verstärkung“ nennen. Ich habe auch mit Technologiekritikern darüber gesprochen, dass Technologie-Konzerne ihre Produkte – ob Hard- oder Software – auf maximale Nutzung hin konzipieren. Alles richtig: Das größte Problem ist aus meiner Sicht aber eine Arbeitswelt, die das Neue einführt, aber zugleich am Alten festhält. Stark vereinfacht: Wir sollen abends um elf noch Emails beantworten, aber morgens um neun wieder am Schreibtisch sitzen. Beides zusammen macht die Menschen aber kaputt.
Es besteht also die Gefahr, dass die gesundheitlichen Vorteile eines länger aktiven Arbeitslebens, das durch die neuen Technologien mobiler, flexibler und damit allgemein angenehmer werden kann, wieder aufgefressen werden durch die vorherrschende Praxis der Arbeitsverdichtung. Damit würden wir nicht nur das prinzipielle Emanzipationspotential des Neuen Arbeitens verschenken, sondern a2uch die Chance, die letzte Lebensphase vieler Menschen durch angemessene, mobile und flexible Berufstätigkeit sinnvoller, aktiver und – ja, vielleicht sogar länger – zu gestalten.
Markus Albers lebt als Autor, Berater und Unternehmer in Berlin. Er ist Mitgründer und Geschäftsführender Gesellschafter der Agentur Rethink sowie Mitgründer der Expertenplattform Neuwork. Er schreibt die Kolumne „Flight Mode“ für Lufthansa Exclusive. Seine Texte wurden unter anderem in Monocle und Brand Eins veröffentlicht. Markus‘ Bücher „Morgen komm ich später rein“ und „Meconomy“ beschäftigen sich mit der Zukunft der Arbeit. Im neuesten, „Digitale Erschöpfung“ (Hanser) wirft er nun einen kritischen Blick auf die Entwicklung.