Vom Flüchtling zum Wissenschaftler und KI-Experten?
(Eine englische Version dieses Beitrags erschien vorher auf realPhDeal.com)
Schon als kleiner Junge, vielleicht gerade zehn Jahre alt, war ich sehr neugierig. Ich erinnere mich, dass ich immer wissen wollte, wie die Dinge funktionieren – sei es mechanisch wie Autos und Flugzeuge oder natürlich wie Pflanzen, Tiere oder Menschen.
Zu dieser Zeit, etwa 1990, lebte ich in Kabul, Afghanistan. Mein Vater, der Ingenieurwesen studiert hatte, war im Laufe der Jahre in verschiedenen Positionen für die afghanische Regierung tätig. Meine Mutter hatte Persische Literatur studiert und war Lehrerin und Schulleiterin. Meine Geschwister und ich führten daher ein sehr privilegiertes Leben in der Mittelschicht. Unsere Eltern haben uns immer ermutigt, eine ausgezeichnete Schulbildung zu verfolgen. So ist es nicht sehr überraschend, dass ich immer die Möglichkeit hatte, zu lernen und neugierig zu sein.
Zu Beginn der 1990er Jahre zwangen uns das politische Chaos und der anhaltende Krieg Afghanistan zu verlassen und einen Zufluchtsort zu suchen – im Alter von 12 Jahren veränderte sich mein Leben komplett. Wir verließen das Land Anfang 1992. Nach Monaten in Moskau und Budapest erreichten wir schließlich Berlin.
Diese Zeit der Flucht war nicht leicht für einen Jungen meines Alters. Wir waren monatelang auf Reisen, ohne wirklich zu wissen, was die Zukunft bringen wird, alles war ungewiss. Gestern noch in der Heimat zu sein, wo man zur Schule ging und mit Freunden Fußball spielte, und schon heute in einem völlig fremden Land, in dem man die Sprache nicht versteht und wo alles ganz anders ist. Was morgen ist, wussten wir nicht: Wo werden wir sein, wird alles für unsere Familie in Ordnung sein?
Getragen vom Strom der Motivation
Heute, mehr als 28 Jahre später, frage ich mich, ob diese Zeit der Ungewissheit in so jungen Jahren meine Denkweise geprägt hat. Vielleicht war es dieses turbulente Leben, das meinen Geist dazu getrieben hat, sich so zu entwickeln. Unsicherheit kann einen dazu bringen, sich schneller anzupassen, besonders in einem so jungen Alter.
Nachdem wir uns in Deutschland niedergelassen hatten und ich wusste, dass dies langfristig unser neues Zuhause sein würde, begann ich sofort die Sprache zu lernen. Ich hatte den inneren Wunsch, alles so schnell wie möglich zu begreifen.
Ich konnte zur Schule gehen und wieder musste sich mein Gehirn rasant den neuen Bedingungen anpassen. Denn parallel zum normalen Schulstoff lernte ich Deutsch, Englisch und Französisch.
Ich entwickelte mich in dieser Zeit zu einem unglaublichen Bücherwurm, war Stammkunde in der öffentlichen Bibliothek und verschlang jeden Monat dutzende Bücher. Beim Genre war ich nicht sehr wählerisch: Ich las Romane sowie Sachbücher aller Art. Sicherlich hat mir meine enge Verbundenheit zur Literatur, meine Leidenschaft für das Lesen beim Lernen der deutschen Sprache sehr geholfen.
Ich las regelrecht alles, was mir vor meine neugierigen Augen kam, und stolperte so schließlich auch über berühmte wissenschaftliche Publikationen. Besonders Abhandlungen über Astronomie und Kosmologie faszinierten mich. Es muss eines dieser ehrfurchtgebietenden kosmologischen Bücher gewesen sein, das mich nachhaltig beeindruckt hat.
Von dem Moment an, als ich das Buch las, hatte ich das tiefe innere Gefühl, dass ich Wissenschaftler werden wollte. In gewisser Weise fühlte es sich wie eine dieser einzigartigen Situationen im Leben an, wenn wir einen plötzlichen Strom der Motivation tief in uns spüren. Von einer Sekunde auf die nächste war das Gefühl da und fühlte sich sofort ganz natürlich an, als wäre man dazu bestimmt.
Der Wunsch zu begreifen
Es ist schwierig, dieses Gefühl nach mehr als 25 Jahren mit Worten zu beschreiben. Und doch war es eine Zäsur in meinem Leben. Es war, als hätte man sein ganzes Leben lang in einem kleinen dunklen Raum gelebt und plötzlich stürzen die umgebenden Wände ein. Zum ersten Mal kannst du sehen, was sich hinter den Mauern verbirgt.
Eine Welt voller neuartiger Farben entfaltet sich vor deinen Augen, andersartige Geräusche dringen zum ersten Mal an deine Ohren. Mit kleinen wackeligen Schritten betrittst du den neuen und unbekannten Boden, verlässt den bisherigen begrenzten Raum und blickst nie mehr zurück.
Das Gefühl der inneren Bestimmung, Wissenschaftler zu werden, war in diesem Moment weder geschärft noch auf eine bestimmte wissenschaftliche Laufbahn ausgerichtet. Ich war einfach fasziniert vom schieren Spektrum der kosmologischen Phänomene und verspürte den Wunsch sie in ihrer Gänze zu verstehen – was für eine naive und unschuldige Fantasie!
Dennoch sollten wir eine solch kindliche Vorstellung nicht lächerlich machen. Denn sie ist eine wichtige Voraussetzung dafür, Beharrlichkeit auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Karriere zu beweisen.
Du kannst deine Hausaufgaben machen, die erforderlichen Bücher lesen und das Handwerk des Berufs ausüben. Am Ende des Tages jedoch stellt sich die Frage, wie du mit negativen Rückschlägen umgehen kannst.
Ein Weg voller Rückschläge und Erfolge
Als ich gebeten wurde, meinen Weg zur Wissenschaft zu erläutern, brauchte ich eine ganze Weile, um herauszufinden, was ich sagen wollte. Sicherlich sollte ich mit der Schulzeit beginnen, dachte ich mir. Dann würde ich in einer Reihe von bestimmten kausalen Ereignissen erklären, wie und wann ich mich für ein Physikstudium entschieden habe, von meiner Entscheidung für die Promotion erzählen, zusammenfassen, was das Thema meiner Promotion war, und so weiter.
Aber andererseits, wozu soll das gut sein? Warum schreiben alle immer wieder den gleichen Lebenslauf und erwarten fälschlicherweise, etwas Neues und Hilfreiches damit zu erzählen?
Das kann nicht die Antwort auf die Frage sein, warum wir erfolgreich einen Weg mit vielen Entbehrungen wählen sollten, an dessen Ende der Doktortitel auf uns wartet. Die viel interessanteren Fragen sind doch diejenigen, die sich auf das Warum und Wie konzentrieren, nicht auf das Was. Warum habe ich nicht aufgegeben, für die Erlangung des Abiturs zu arbeiten – auch nachdem ich in der zehnten Klasse sitzen geblieben bin?
Warum habe ich mich nach der zehnten Klasse nicht für eine Ausbildung entschieden? Fragen wie diese stellen sich in den Momenten im Leben, in denen wir negative Rückschläge erleben müssen.
Auch später, während des Studiums an der Universität, kann es zu scheinbar unlösbaren Situationen kommen: Ein bestimmter Kurs kann dir als deine unbesiegbare Nemesis erscheinen. Nichtsdestotrotz könnten wir in der Lage sein, diese und andere Herausforderungen zu meistern. Aber wie?
Für mich kann diese Frage nur durch innere Motivation beantwortet werden. Sie war der Schlüssel für meine Entscheidungen, die ich für meine wissenschaftliche Karriere treffen musste. Als ich in der zehnten Klasse durchfiel und mich fragte, ob ich die Schule bis zur Hochschulreife weiterführen oder stattdessen einen Ausbildungsberuf erlernen sollte, motivierte mich meine frühere Vorstellung, Ersteres zu verfolgen.
Als ich große Schwierigkeiten hatte, fortgeschrittene Mathematik für Physiker an der Universität zu verstehen, besann ich mich wiederum auf sie. Auch als ich während meiner Doktorarbeit Rückschläge erlebte, motivierte mich die Erinnerung aus Kindheitstagen den Weg bis zum Ende zu gehen.
Mein Weg vom Flüchtling zum Chief Artificial Intelligence Scientist bei Lindera
Dies ist meine Geschichte. Auf diesem Weg habe ich meine Doktorarbeit in Theoretischer Physik abgeschlossen. So wurde ich zu dem, was ich bin und wo ich jetzt bin, dem leitenden Forscher und Wissenschaftler für künstliche Intelligenz beim Healthcare-Start-up Lindera.
Mein einziger wichtiger Ratschlag für diejenigen, die ihren Weg in der Wissenschaft gehen wollen, ist dieser: Such nach diesem ersten Keim der inneren Motivation, der durch eine inspirierende Erfahrung in deinem Kopf gepflanzt wurde und dich überhaupt erst zu den Wissenschaften gebracht hat.
Er wird dich immer auf deinem Weg begleiten und dir den Weg weisen, wann immer du an einer Weggabelung im Leben stehst.